Ein Schuh

Elvira Schlott

© Jürgen Schindler

von Pastorin Elvira Schlott, St. Nikolai Kiel


Fast jeden Tag fahre ich mit dem Rad an einem kleinen Spielplatz vorbei. Auf der Bank im Sonnenschein liegt ein Schuh. Ein Kinderschuh.

Am zweiten Tag liegt der Schuh noch an derselben Stelle. Ich muss schmunzeln. Ich stelle mir das Kind vor, wie es im Sand spielt, die Schuhe auszieht. Als die Familie nach Hause geht, bleibt ein Schuh zurück – warum auch immer. Ich male mir aus, wie sie Zuhause suchen.

Am dritten Tag denke ich, wie gut, dass es nicht geregnet hat. Noch immer liegt der Kinderschuh da. Meine Augen werden feucht. In mir steigt ein Bild auf; ich sehe Berge von Schuhen, von Männern, Frauen, von Kindern. An Menschen, die nicht zurückkehren, um sie zu holen. Die Menschen sind tot. Ermordet in den Konzentrationslagern. Ich muss an dieses eine Foto denken. Es hat sich in mein Gedächtnis gebrannt. Ein kleiner Junge am Strand. Im Mittelmeer ertrunken, auf der Flucht in ein besseres Leben. Hatte der Junge Schuhe an?

Kinder sind Opfer in den vielen Konflikten und Kriegen dieser Welt. Sie sind unschuldig. Die Kinder können nichts dafür. Ich schlucke die Tränen runter und fahre auf meinem Fahrrad weiter. Was kann ich schon ändern?

Am nächsten Tag ist der Kinderschuh vom Spielplatz verschwunden.