Die Schublade

Lars Palme

© Jürgen Schindler

von Pastor Lars Palme, Zentrum kirchlicher Dienste


Ich nehme den Hörer ab: „Telefonseelsorge, guten Tag.“ Der Anrufer beginnt sofort zu erzählen. Nach den ersten Worten weiß ich: Ach ja, er hat schon oft angerufen. Ich kenne seine Stimme. Es geht um bedrückende Kindheitserlebnisse und seine Partnerschaft, die nicht leicht war. Immer wieder muss er dieselben Erlebnisse am Seelsorgetelefon erzählen. Ohne Punkt und Komma. Als Seelsorger komme ich nicht zu Wort. So war es die letzten Male auch.

Den Hörer am Ohr, lehne ich mich zurück und schaue aus dem Fenster. Der Nachbar könnte auch mal wieder seine Hecke schneiden, denke ich. „Mmh, ja“ spreche ich in den Hörer und in den Redefluss des Anrufers. Da fällt mir ein, dass ich heute Morgen ganz vergessen habe, Kuchen für das Wochenende zu bestellen. Wo habe ich denn meinen Einkaufszettel? Ich halte inne: Was mache ich hier eigentlich? Ich höre gar nicht zu! Denke an Hecken und Kuchen. Ich bekomme einen Schrecken vor mir selbst.

Als ich die Stimme des Anrufers gehört habe, habe ich ihn sofort eingeordnet: „Mit diesem Menschen kann man nicht in Kontakt kommen, kein richtiges Gespräch führen, am besten einfach erzählen lassen.“ Ich habe den Anrufer einfach in eine Schublade mit dem Aufkleber: „Kontakt unmöglich“ gesteckt. Wieder bekomme ich einen Schrecken. So entstehen Vorurteile. Ich lasse uns keine Chance in Kontakt zu kommen. Symbolisch fasse ich mich an die eigene Nase und setze mich wieder aufrecht hin.

Der Anrufer erzählt davon, wie verzweifelt er in seiner Partnerschaft war, weil er immer das Gefühl hatte, das seine Frau ihm nicht zuhört. „Für mich klingt es so, als ob sie es müde sind und keine Lust mehr haben, immer um Aufmerksamkeit kämpfen zu müssen,“ sage ich. Für Sekunden ist es still am Telefon, dann sagt der Anrufer: Ja, das stimmt. Danke.