Bernd Galle, Julian und Robin (v. l.)
© Jürgen Schindler
Auf einen heißen Kakao und zwei Kaffee im Bistro der Walther-Lehmkuhl-Schule: Bernd Galle, Julian und Robin (v. l.)

"Es war gut, genauso wie es war"

Schule und Seelsorge sieben Wochen nach dem Messerangriff bei Brokstedt

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Robin (22), Julian (17) und Bernd Galle (58) verbindet ein Wort: Brokstedt. Es steht für die Messerattacke im Regionalexpress, bei der zwei Menschen starben. Unmittelbar danach treffen Robin, Julian und Bernd Galle zum ersten Mal aufeinander. In Neumünster, in der Walther-Lehmkuhl-Schule. Bernd Galle ist dort Schulseelsorger, Robin und Julian sind mit den getöteten Jugendlichen in eine Klasse gegangen.

Sieben Wochen nach der schrecklichen Bluttat setzen sich die drei in der Schule noch einmal zusammen. Wie war das damals in der Schule? Was hat geholfen? Und was konnte Schulseelsorger Bernd Galle dazu beitragen?

"Man fühlt sich nackt und sprachlos. Man hat etwas gelernt, aber fragt sich, ob das reicht", beschreibt Bernd Galle die Gedanken, die ihm am Morgen nach der Bluttat durch den Kopf gehen. Erst im vergangenen Sommer hat der Lehrer die Weiterbildung zum Schulseelsorger abgeschlossen. Nun trifft er in seiner Walther-Lehmkuhl-Schule auf Julian. Der Jugendliche sitzt auf einer Bank im Flur und wartet, dass der Unterricht beginnt. Stattdessen die traurige Nachricht: Eure Klassenkameradin Ann-Marie ist tot.

"Wir haben drei oder vier Stunden fast gar nicht geredet, manche haben geweint", erinnert sich Julian. Bernd Galle sitzt zwischen den Schülerinnen und Schülern, zusammen mit einer Schulpsychologin. "Dann haben wir irgendwann angefangen, darüber zu reden, wie Ann-Marie war. Sie hat immer über ihr ganzes Leben erzählt", beschreibt Julian das enge Miteinander in der 11. Klasse des beruflichen Gymnasiums. Bernd Galle packt seinen "Trauerrucksack" aus, den er vor wenigen Wochen erst bekommen hat. Darin sind LED-Kerzen, ein Bilderrahmen, eine blaue Decke, Steine und mehr. "Wir haben die Decke über einen Tisch gelegt, ein Foto von Ann-Marie daraufgestellt, eine Zigarette, die sie sich immer geschnorrt hat, dazugelegt, ihren Lieblingskaffee und Süßigkeiten", erinnert sich der 17-Jährige.

Wenige Tage sind nach dem Unglück vergangen, als Robin (22) die Walther-Lehmkuhl-Schule betritt. Danny, der beim Angriff ums Leben gekommen ist, war sein Kollege in der Ausbildung. Die beiden angehenden Mechatroniker haben miteinander trainiert: "Kraftsport im Gym". Schulseelsorger Galle spricht mit der Berufsschulklasse, er regt an, kreativ eine Collage zu gestalten. "Ich habe zuerst gedacht: Was soll das jetzt? Das hilft doch nicht", erinnert sich Robin. "Aber für unseren Beruf, waren wir dann doch ordentlich kreativ." Aus Karton gestalten sie einen großen Ast, auf dessen Blätter schreiben die Schüler Gedanken und was sie mit Danny verbunden hat. "Wir haben dabei miteinander geredet, haben uns vielleicht auch abgelenkt, aber es hat die Klassengemeinschaft gestärkt", findet der 22-Jährige und fügt mit einem Lächeln hinzu. "Manchmal muss man halt zu seinem Glück gezwungen werden."

Während Robin zunächst in den Betrieb zurückkehrt, bleibt die Klasse von Julian die kommenden Tage über zusammen. Julian schreibt eine Trauerrede für Ann-Marie, gemeinsam organisieren sie eine Trauerfeier in der Schule. Bernd Galle ist dabei und hilft unauffällig. "Ich habe Möbel gerückt oder die Technik aufgeschlossen, damit die jungen Leute die Musik aussuchen konnten", beschreibt der Schulseelsorger. Über den Titel "Valhalla Calling" habe er sich zuerst gewundert. "Aber mir ist klargeworden, dass jeder seine Art hat zu trauern, und das ist gut so", blickt Galle zurück. "Schülerinnen und Schüler haben Brettspiele gespielt, manche wollten alleine sein, andere sind rausgegangen zum Rauchen, und wieder welche haben sich über künstliche Intelligenz informiert", beschreibt der Schulseelsorger.

Galle unterrichtet Metallbauer in der Ausbildung und ist Religionslehrer. Da lag die Weiterbildung zum Schulseelsorger bei der Nordkirche nahe. Bei der Trauerfeier in der Walther-Lehmkuhl-Schule hat er den Psalm 23 vorgetragen. "Und das Vaterunser haben sehr viele mitgesprochen", ist ihm damals aufgefallen.

"Es war gut, genauso wie es war. Und es hat echt geholfen", urteilt Julian im Rückblick. Robin weiß es zu schätzen, dass jemand da war, der sich mit etwas Abstand in die Schülerinnen und Schüler hineinfühlen konnte. "Herr Galle hat Anstöße gegeben, als wir nicht wussten, was wir machen sollten. Er hatte den roten Faden, hat gezeigt, wo es langgeht, Punkt und Strich gesetzt."

An dieser Stelle könnte die Geschichte enden. Doch Bernd Galle berichtet, die Gespräche gingen weiter, gerade im Kollegenkreis: "Wir wissen, dass es für so eine Situation keinen festen Plan geben kann, weil jede Situation anders ist. Und es ist uns klargeworden, dass wir die Krise nur gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern durchstehen konnten, nicht zuletzt, weil das Team der Lehrkräfte, Psychologin, Schulseelsorger und Schulleitung sich gegenseitig unterstützt hat."

Jürgen Schindler,